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Stadtmuseum

Sindelfingen: Religiöse Überhöhung der nationalsozialistischen Doktrin

Projekt „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ des Stadtmuseums und Stadtarchivs Sindelfingen. März 1944: „Die Verpflichtung der Jugend – eine Angelegenheit des ganzen Volkes“.
Von Illja Widmann
„Leistungsbuch“ und „Schießbuch“ der Hitlerjugend aus dem Bestand des Sindelfinger Stadtmuseums.

„Leistungsbuch“ und „Schießbuch“ der Hitlerjugend aus dem Bestand des Sindelfinger Stadtmuseums.

Bild: Stadt Sindelfingen

Sindelfingen. Das Projekt „Vor 80 Jahren - Sindelfingen im Krieg“ stellt monatlich wechselnd ein Thema oder ein Objekt aus der Zeit vor 80 Jahren im Stadtmuseum in den Mittelpunkt. In Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv entsteht auf diese Weise ein Blick in die Vergangenheit, der unter anderem die Alltagssituation der Menschen damals in den Blick nimmt. Die Texte sind auch auf der städtischen Homepage nachzulesen.

Die Monatsvitrine zum jeweiligen Thema ist im Stadtmuseum zu sehen.

Alle 14-Jährigen

Am Sonntag, 26. März 1944 hörten die Menschen bereits am Morgen „Trommel- und Fanfarenklänge“ in der Stadt. An diesem Tag fand in Sindelfingen, wie im gesamten Deutschen Reich, die „Verpflichtung der Jugend“ für die 14-jährigen jungen Männer und Frauen statt. Feierort war der geschmückte Festsaal. Anwesend waren die Vertreter der NSDAP, der Gemeinde und der Betriebe. An diesem Tag wurden die Jugendlichen offiziell aus der Schule entlassen und traten einen neuen Lebensabschnitt an.

Der Höhepunkt der Veranstaltung war das Gelöbnis der Jugendlichen.

Die Böblinger Kreiszeitung verwies bereits am 21. März 1944 auf die besondere Stellung „[…] eines der bedeutungsvollsten der Festtage […] Was die Feier der Verpflichtung der Jugend aus dem Kreis der Lebensfeiern heraushebt und ihr einen besonders bedeutsamen Platz zuweist, ist, dass sie Sache nicht eines Teiles oder einer irgendwie gearteten Gruppe des Volkes ist, sondern heiligste Angelegenheit der ganzen Dorfgemeinschaft.“

Kein Platz für Individualität

Diese Formulierung zeigt deutlich eine religiöse Überhöhung der nationalsozialistischen Doktrin und macht klar, dass Individualität hier keinen Platz hat.

„Sache des ganzen Volkes muss die Verpflichtung der Jugend umso mehr sein und werden, als unsere Jungen und Mädel zum ersten Mal in ihrem Leben mit besonderem Nachdruck auf das Volk, auf den Führer und auf das Reich und seine Fahne verpflichtet werden.“ So die Zeitung vom 21. März.

Die Hitlerjugend (HJ) war bereits 1926 gegründet worden. Mit der Einführung der „Jugenddienstpflicht“ vom 25. März 1939 wurde die rechtliche Grundlage für eine Zwangsmitgliedschaft gelegt. In der HJ wurden 14- bis 18-jährige Jungen vor-militärisch und ideologisch geschult. Junge Frauen zwischen 14 und 17 Jahren mussten in den Bund Deutscher Mädel (BDM) eintreten. 

Prüfungen und Wettbewerbe

Zwei interessante Objekte aus dem Bestand des Sindelfinger Stadtmuseums zeigen die militärische Ausrichtung der HJ: In einem „Schießbuch (Kleinkaliber)“ wurden die Ergebnisse der Ausbildung, die in drei Stufen erfolgte, eingetragen. Wer alle Anforderungen erfüllt hatte, erhielt vom Reichs-jugendführer das Schießabzeichen. Das „Leistungsbuch der Hitlerjugend“ umfasste Prüfungen und Wettbewerbe in folgenden Kategorien: „Leibesübungen, KK [Kleinkaliber]-Schießen, Geländesport (einschl. Marschübungen), weltanschauliche Schulung“.

„Körper gehört der Nation“

Im Vorwort des Leistungsbuches verweist Reichsjugendführer Baldur von Schirach auf die Bedeutung der Hitlerjugend: „Dein Körper gehört Deiner Nation, […] Du bist ihr für Deinen Körper verantwortlich. Erfülle die Forderungen dieses Leistungsbuches und Du erfüllst eine Pflicht gegen Dein deutsches Volk.“ Das Sindelfinger Exemplar wurde bereits im Juli 1939 gedruckt und damit vor Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Mit Fortdauer des Kriegs wurden die Mitglieder der HJ zu immer mehr kriegs-wichtigen Diensten eingesetzt. Dazu zählten Spendenaktionen (Winterhilfswerk), Sammlungen von Kleidern, Altmetall und Ähnlichem. Die Jugendlichen versahen Luftschutzdienste und wurden ab 1945 sogar im Volkssturm eingesetzt.